Unterwegs mit „Waldheims Walzer“

Festival-Tagebuch von Ruth Beckermann, 2018
Die Dokumentation der Filmemacherin ist Österreichs Oscar-Kandidat und kommt am 1. Oktober in die heimischen Kinos. Im Frühjahr tourte die Regisseurin wochenlang von Berlin bis Tel Aviv


1. Berlin, Deutschland

Berlin empfängt mich mit einem Werbeplakat für die Stadt: „Done with Walls“. Sechs Wochen werde ich nun durch ein Europa ohne sichtbare Mauern fahren, um meinen Film Waldheims Walzer auf einer Festival-Tour-de-Force zu begleiten. Das ist wunderbar, doch weiß ich aus Erfahrung, wie schnell mir auf all den Flughäfen die gute Laune vergeht und wie rasch ich mich langweile, wenn sich Fragen wiederholen, wie unleidlich ich werde, wenn Leute zu spät in die Vorstellung kommen oder bei Beginn des Abspanns rausrennen. Am schlimmsten sind jedoch die eineinhalb Stunden, während der Film läuft. Hat die Person, die das Interview im Anschluss an die Vorstellung mit mir machen wird, den Film bereits gesehen, kann man sich draußen unterhalten, oft möchte sie ihn nochmals ansehen, und dann steht man in der Stille eines Kinofoyers rum und fragt sich nach dem Sinn des Lebens.

Ich weiß, „das gehört zum G'schäft“, doch G'schäft ist es keines. Die großen Festivals wie Berlin, aber auch viele kleinere Festivals zahlen keine Filmmiete, wenn der Film für ihren Wettbewerb auserkoren wurde. Von Honorar für die Filmerin ganz zu schweigen. Wozu fahre ich also für ein zwanzigminütiges Frage-Antwort-Spiel nach der Vorführung da hin? Einerseits Promotion. Hat der Film bereits einen Kinoverleih, sorgt ein wichtiges Festival im jeweiligen Land für Aufmerksamkeit und Interviews. Zum anderen, um die Festivals, die für nichtkommerzielle Produktionen, die in vielen Ländern keine Chance auf einen Kinoeinsatz haben, immer wichtiger werden, zu unterstützen. Sie brauchen die Aura der persönlichen Anwesenheit der Filmer.

Vom Berliner Flugplatz fährt mich ein lustiger kleiner Herr Grusch direkt zum „Haus des Radios“ in die Masurenallee. Von Hans Poelzig entworfen, 1929 erbaut und feinst erhalten. Der Paternoster funktioniert, und ich denke wehmütig an unser vernachlässigtes, verkauftes Funkhaus. Ach, wieso kann Wien nicht, was Berlin kann. Das Haus des Radios leistet sich sogar einen eigenen Chauffeur, Herrn Grusch. Bereits in Rente, doch bestens informiert, erzählt er mir, was er in den Zeitungen über meine Filme las. Er sei sehr zufrieden mit seiner „Radiofamilie“, sagt er. Auch ich werde es sein, denn die seien „immer sehr gut vorbereitet“. Was ich ihm bei der Weiterfahrt ins Hotel nur bestätigen werde. Schön, kurz nach dem Festivalhype der Berlinale wieder hier zu sein. Im gleichen Hotelzimmer mit dem Spruch „Man braucht sehr lange, um jung zu sein“, der angeblich von Pablo Picasso stammt. Wie wahr! Fälschlicherweise meint man, jung sein bedeute Angstfreiheit. Das mag für gewisse Sportarten gelten, doch nicht fürs Leben im Allgemeinen. Wie lang braucht man, um jung zu werden, um Hemmungen, Schüchternheit, Angst vorm Scheitern nicht mehr so wichtig zu nehmen!?

Europäische Geschichte(n):
Zwei Tage vor meiner Ankunft griff ein 19-jähriger syrischer Flüchtling einen 21-jährigen Israeli mit Kippa am schicken Prenzlauer Berg an. Der Mann zog seinen Gürtel aus der Hose und schlug auf den Juden ein. In den Cafés rundum saßen die Bobos in der Sonne und schauten zu. Eine einzige Frau schritt ein. Gestern griffen zwei Rechtsradikale eine „Deutschtürkin“ und ihren türkischen Begleiter an. Die Frau wurde niedergeschlagen, der Pitbull auf den Mann gehetzt. Die Rapper Kollegah und Farid Bang („Mein Körper definierter als von Auschwitz-Insassen“) erhalten den diesjährigen Echo-Preis. 30 Millionen Klicks hatten sie bereits!

Der Holocaust ist das letzte Tabu, das sich zu brechen lohnt, scheint doch das Schlagwort Jude Lust, Befreiungs- und Rebellionsgefühle auszulösen. Rap gilt noch immer als Subkultur, obwohl jeder weiß, dass es total unglaubwürdig ist, wenn Bertelsmann jetzt 100.000 Euro für eine Kampagne gegen Antisemitismus stiftet.

Eine Frau meinte nach der Vorführung von Waldheims Walzer, Waldheim hätte seinen Kopf beim Totengebet in Yad Vashem nicht bedecken können, weil das für ihn wie ein Schuldbekenntnis gewesen wäre, es hätte ein Stück seines Panzers aufzubrechen gedroht. Vielleicht war das der Grund seines für einen sonst so wendigen Diplomaten unerklärlichen Verhaltens. Wenn ich in der Diskussion nach dem Film sage, dass die Waldheim-Affäre für Österreich ein wichtiger Wendepunkt gewesen sei und man sich damals nicht allein mit der eigenen NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen begann, sondern sich eine Zivilgesellschaft konstituierte, die auch zu anderen Problemen kritisch Stellung nahm, kommt immer die Frage, wieso dann jetzt wieder die Rechte und der Populismus im Aufwind, ja in der Regierung seien.


2. Tuy, Spanien

Next Stop Spanien, besser die autonome Provinz Galicien. Tuy ist eine altmodische Kleinstadt an der Grenze zu Portugal, die am Rio Miño verläuft. Der Hauptplatz heißt Plaza Immaculata, ich sitze im Café Santi Amén. Nur wenige Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela kommen vorbei.

Was sagte Sara, als sie den Film zu ihrem kleinen, aber feinen Festival Play-Doc einlud? „Wir haben zwei Faschisten, Rajoy und Puigdemont. Auch bei uns wurde alles unter den Teppich gekehrt. Der Film passt genau zu unserer heutigen Situation.“ Im Flugzeug las ich im Falter, Johann Gudenus hätte etwas noch Besseres als „alternative facts“ erfunden: das „stichhaltige Gerücht“. Es beweise, dass George Soros Europa mit Migranten fluten wolle. „Sonnenstichhaltig.“

Es gibt drei Arten von Festivals: Die großen wie Cannes, Venedig, Berlin, wo jeder von Termin zu Termin hetzt, in den Augen das Eurozeichen. Die touristischen Festivals wie Mallorca oder Kitzbühel, wo die Gäste in ein feines Hotel gesteckt werden und die Filme mehr oder weniger als Alibi für den Verkauf von Schnitzeln dienen. Und die kleinen wie Tuy oder Basel, wo sich eine gelungene Filmauswahl mit Gastfreundschaft paart. Wo man an langen Tischen, hier belegt mit Jamón, Tortillas und Octopus auf galicische Art, mit Kollegen und Filmjournalisten spricht.


Europäische Geschichte(n):
Es gab keinen Bruch mit der Franco-Diktatur. Sara sagt, der Partido Popular sei direkter, nahtloser Nachfolger. Straßen sind nach Franco-Generälen benannt, am Mausoleum in der Nähe des Escorial werden täglich frische Blumen hingelegt. Die Familie Franco ist noch immer reich und mächtig wie so viele andere große, ehemals faschistische Familien. Kontinuität der Eliten.

Auch die Zeitrechnung hat politische Bedeutung. Spanien gehört geografisch zur westeuropäischen Zeit. Franco hatte sie aus Bewunderung für Hitler an die MEZ angepasst, ebenso handelte Portugals Diktator. Während Portugal jedoch wieder zur Vorkriegszeit und damit in den Westen zurückkehrte, blieb in Spanien der Bruch aus. Spanien ist heute dort, wo Österreich 1986 war.

Beim Abschied sagt Gustavo, ich solle noch einen Tag bleiben. Ich antworte, dass ich den Maiaufmarsch tags darauf nicht versäumen möchte. Erstaunen in der Runde, keiner hier denkt noch an die Bedeutung dieses Tages, nicht mal Pablo aus Mexiko, wo ich vor langer Zeit noch bei einem gewaltigen Marsch mitging.


3. Belgrad, Serbien

Nein, ich wäre nicht zu Milosevics Begräbnis gegangen wie Peter Handke. Aber ich habe ein positives Vorurteil gegenüber den Serben. Schließlich standen sie im Krieg auf der richtigen Seite. Die perversen Besuche und Stellungnahmen von Strache/Gudenus passen da nicht rein. Ich hoffe, beim Festival zu erfahren, ob die Einladungen samt Ordensverleihungen an diese Gestalten mehrheitsfähig sind.

„Was kannst du in zwei Tagen schon erfahren?“, fragt mein Freund Helmut, der keine Ahnung von der Intensität eines Filmfestivals hat. Zwei Tage lang siehst du nicht unbedingt viele Filme, doch du redest mit vielen Menschen, weil es keinen Filmmarkt, also kein Business und kein Pitching gibt, man also Zeit hat! Und weil die Nächte in Belgrad lang sind, was dazu führt, dass ich so was gar nicht länger als zwei Tage aushalte.

Nicht daheim und doch zu Hause; Ortlosigkeit des Internets. Früher war man abgeschnitten von den heimatlichen Nachrichten, weil die österreichischen Zeitungen zu schlecht sind, um einen ausländischen Markt zu erreichen. Jetzt erwarte ich von mir, immer und überall auch noch mitzukriegen, welche „FPÖ-Einzelfälle“ in der jeweiligen Woche vorfallen. Diese Woche gab es erfreulicherweise die feinen Reden von Michael Köhlmeier und Doron Rabinovici.

Ich war nur einmal in Belgrad, 2002, mit dem Film homemad(e), untergebracht in einem dieser kommunistischen Hotels, wo eine Seite für Ausländer reserviert war, die andere für einheimische Reisende. In der Lobby saßen zu jeder Tageszeit einige willige Damen rum. Damals nutzte ich den Aufenthalt, um einige Interviews für meine Installation europamemoria zu machen. Meine Betreuerinnen zeigten mir die zerstörten Gebäude mitten im Zentrum, sie führten mich nach Novi Sad, wo ich die zerstörte Brücke sah. Sladana erzählte, wie viele Freunde sie unter Tränen am Bahnhof verabschiedet hatte. Ich kannte mich nicht aus in diesem Krieg, verstehe ihn bis heute nicht, vor allem seit ich auf dem ältesten jugoslawischen Festival in Pula war und alle Filmer aus allen Teilen des zerstückelten Landes einander in die Arme fielen und alle dem alten Jugoslawien nachweinten. Ich erinnere mich an die Armut damals, an die schier endlos scheinenden Reihen von Plattenbauten, in denen meine Betreuerinnen wohnten. Ich erinnere mich, dass sie mir von ihrem Wunsch nach gutem Nagellack erzählten und ich, wieder in Wien, einige kaufte und ihnen schickte. Ob sie ankamen, weiß ich nicht, niemals kam ein Zeichen, und heute schäme ich mich dafür, dass ich ihnen nicht Geld gegeben hatte, so wie meine Eltern das getan hätten. Doch damals war ich naiv und dachte, Geld wäre beleidigend, hatte ich mich doch immer geschämt, wenn meine Eltern es in Form von Trinkgeldern verteilten. Inzwischen weiß ich, dass Geldverteilen nie schadet.

Belgrad ist sexy. Die Männer. Die Frauen. Überall küsst man sich auf den Straßen. Der Kaffee ist gut. Im Zentrum scheint die Stadt nicht mehr arm zu sein. Jetzt betreut mich Branka: Sie arbeitete drei Jahre in Wien bei der Unido, spricht sehr gut Englisch wie alle jungen Leute hier. Sie interessiert sich für Ökologie und ärgert sich, dass überall Plastik verwendet wird. „Wir haben so viele Probleme hier, dass ökologische Fragen keine Rolle spielen. Korruption, Armut, Arbeitslosigkeit. Aleksandar Vucic lügt und ist korrupt. Er spielt vor Merkel den Demokraten. Wie Strache sagt er, ach, damals (unter Milosevic) war ich jung und dumm, und ist doch ein Nationalist. 2000 war die große Hoffnung Djinjic, dann kamen die Alten wieder zurück. Jugoslawien war viel besser“, sagt sie.

Viele Ausländer, Digital Nomads, die in Belgrad günstig leben, aber auch der deutsche Botschafter kommen zu Waldheims Walzer in einen riesigen Saal im Dom omladine, einem hässlichen Jugendzentrum. In Belgrad wurden etwa 15 Kinos privatisiert und dann geschlossen. Eine Frau sagt, der Film sei hier besonders aktuell, weil Vucic seine Vergangenheit auch verschweige. Den Kosovo werde er niemals entlassen, denn dort liegen die mythologischen Orte seiner Anhänger.

Meine Betreuerinnen Natascha, Eva, Branka (warum sind es immer Frauen?) sind schick angezogen und perfekt geschminkt, gebildet und ehrgeizig. Alle haben Probleme mit der Macho-Gesellschaft, alle fragen mich, wie ich's als Frau schaffe, Regisseurin zu sein. Natascha lernt Italienisch, möchte nach Italien, Eva denkt an Kanada. So viele kluge junge Leute verlassen das Land. Eva arbeitet an einer Ausstellung über 1968 in Belgrad. Studenten hatten die ganze Stadt blockiert. Später am Tag sehe ich die Fotos dazu von Tomislav Peternek im großartigen Museum of Contemporary Art.


4. Warschau, Polen

Bisher ist mir jedes Mal ein Buch für meine Reisen in die Hände gefallen: Die Tagesordnung von Eric Vuillard für Deutschland, Ingeborg Bachmanns Todesarten für Galicien, Handkes Serbische Reise für Belgrad. Was nehme ich nach Polen mit? Die schöne Frau Seidenmann von Andrzej Szczypiorski? Nein, ich möchte keine jüdischen Vernichtungsgeschichten lesen. Doch fällt mir zu Polen nichts anderes ein. Dort war für die Nazis der Ort, wohin man unliebsame Menschen aus den Augen und Ohren der Einheimischen brachte, weil man mit deren Zustimmung oder Indifferenz rechnen konnte. Die Geschichte wiederholt sich nicht, doch sie reimt. Die Unliebsamen sollen heute nicht reingelassen und fern von etwaiger Empathie der Einheimischen auf „Anlandeplattformen“ konzentriert werden.

Gleich nach meiner Ankunft erzählt mir meine Betreuerin, dass ihre Großmutter Jüdin gewesen sei, also auch ihre Mutter Jüdin ist. Man rede öffentlich nicht darüber, sondern nur privat mit anderen, die auch Juden in der Familie haben. Jan, der Fahrer, sagt, der Antisemitismus sei enorm stark, so wurde der Film Ida trotz Oscars nur einmal spät nachts im TV gezeigt. Bei einem Besuch in Praga, einem ehemals jüdischen Viertel, gehen wir durch gänzlich heruntergekommene Häuserzeilen. Unser junger Alternativ-Guide erzählt, dass hier viele Gangsterfilme gedreht werden. Mittagessen in einer Milchbar: Latkes, Borscht, Platzki etc. Ist die jüdische Küche polnisch oder umgekehrt?

Warschau im Zentrum und an der Weichsel ist reich. Der Kapitalismus fuhr so richtig ein mit Shopping rund um die Uhr. Glaspaläste reihen sich aneinander, und die Läden der Textilketten sind hier fünfmal so groß wie in Wien. Mittendrin das Gebäude, das Stalin der Stadt geschenkt hatte und das viele abreißen wollen. „Damals konnten wir das Geschenk schwer ablehnen“, sagt Jan. In der schönen Kinoteka mit acht Sälen wird mein Film gezeigt.

Europäische Geschichte(n):
Und schließlich besuche ich doch das „Polin“, das Museum über „tausend Jahre Geschichte der Juden in Polen“ (allein dies ist bereits falsch, denn wann war was Polen?), obwohl man mich vor diesem Disneyland, das mitten im ehemaligen Ghetto gebaut wurde, gewarnt hatte. In einem Nebenraum gibt es jedoch eine – traditionell gestaltete – eindrückliche Ausstellung zu den Ereignissen im März 1968, als nach dem Sechstagekrieg eine Hasskampagne gegen die überlebenden polnischen Juden losbrach, die schließlich zur Emigration von rund 13.000 Juden führte. Ein Filmdokument zeigt die Rede Gomulkas von „der zionistischen fünften Kolonne im Lande“. 2018 unterzeichnet Ministerpräsident Andrzej Duda ein Gesetz, dass Leute, die von „polnischen Lagern“ sprechen oder auch nur von polnischer Schuld, mit bis zu drei Jahren Haft bestraft. Juden polnischer Abkunft protestieren: „Dürfen wir nicht mehr erzählen, dass Polen unsere Eltern denunzierten?“


5. Tel Aviv, Israel

Wohne im Hotel Cinema, dem ehemaligen Kino Esther im Bauhaus-Stil. Alle Kinos meiner Kindheit sind dahin, das Gad, das Paris, das Mograbi, gegründet von den Vorfahren des Filmemachers Avi Mograbi.

Sogar beim Festival redet niemand von all den Paradoxa, die sich hier überschneiden: Botschaft in Jerusalem, Eurovision und Tote in Gaza, volle Strände, übervolle Lokale. Würde ich nicht in die englische Ausgabe von Haaretz schauen, versänke ich völlig in der Blase. Dort schreibt Gideon Levy, was es wohl für einen Aufstand gäbe, würden 60 Hunde erschossen werden, während 60 Tote in Gaza maximal zu einem Seufzer taugen. Ja, die Hunde hier, seit wann sind Juden Hundenarren? Ach. Seit wann trinken Juden? Und gar nicht wenig! Interview mit der TV-Station Yes. Ein Franzose, der seit zwei Jahren hier lebt, wie übrigens ca. 30.000 französische Juden, die in den vergangenen 15 Jahren eingewandert sind, weg von den Terroranschlägen, den Morden an Juden, weil sie Juden sind. Wie jede Einwanderungswelle haben sie die Stadt verändert; an jeder Ecke im Zentrum erfreuen französische Bäckereien und Cafés, manche Immobilienagenturen annoncieren ausschließlich auf Französisch. Der israelische Kameramann fragt mich danach, ob ich Jüdin sei und warum ich nicht hier lebe. Er verstehe das, die Situation für Filmemacher sei katastrophal, seit Miri Regev Kulturministerin ist. Sie hasse die Filmer, bezeichne sie als fünfte Kolonne.

Ich denke an meine Begegnung mit dem israelischen Filmkritiker Ariel Schweitzer in Tuy. „Das politische israelische Kino erfindet sich neu“, sagt er, „ohne öffentliche Fördermittel.“ Nur wenige wie Amos Gitai oder Keren Yedaya hätten jedoch diese subversive Ader, die meisten passten sich an.

Meine Vorführungen sind bummvoll, jeweils rund 650 Leute! Danach kommt ein Mann zu mir und sagt, schuld seien nicht die Politiker, sondern die Menschen, die sie wählen, auch hier, diejenigen, die Netanjahu wählten. Meine Cousine aus Jerusalem deutet an, dass sie über die Übersiedlung der Botschaft unglücklich sei. Den meisten Leuten scheint es egal zu sein.


6. Sheffield, Großbritannien

Auf der grünen Insel. Schafe und Kühe auf der Fahrt durch den Peak National Park nach Sheffield. Tel Aviv sei Teil von Europa, schreibt Dan Diner. Die ehemalige Stahlstadt Sheffield ist nicht allein geografisch bereits half way to the USA. Antikolonialismus ist das Thema der Stunde. Bürgermeister Magid Magid kam als Kind aus Somalia. An der Universität ist das Palestinian Film Lab installiert. Nach dem Film Hale County über schwarzen Alltag in Alabama, der nur Klischees zeigt, frage ich mich, warum ein Blick als antikolonial durchgeht, allein weil er von einem schwarzen Regisseur auf Schwarze fällt.

Alternative und virtuelle Realitäten sind die großen Themen, Netflix eröffnet im September sein Europabüro in London. Ob all dies Zukunft ist, wird sich zeigen. Erinnerung hat auch ihren Platz: Der Film Silence of Others über den Kampf einer Gruppe von Franco-Opfern um die Erinnerung, gewinnt einen Hauptpreis.

Drei Wochen später stürzt Rajoy. Franco soll endlich aus seinem riesigen Mausoleum in ein Familiengrab umgebettet werden, die Straßen, die noch immer nach seinen Generälen oder Heilssprüchen heißen, umbenannt werden. Und Spanien lässt die Flüchtlingsschiffe anlanden, die Italien, Malta etc. abweisen, mehr noch, es heißt die jeweils lächerlich kleine Menge von einigen hundert Menschen willkommen.

Auch das ist Europa.

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In: Der Standard, 23.09.2018

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